Das Skelett für Sentinel-4
Die INVENT GmbH hat im Unterauftrag des deutschen Raumfahrtkonzerns OHB die so genannte Primärstruktur für das Messinstrument Sentinel-4 der gleichnamigen Mission der europäischen Raumfahrtagentur ESA mitentwickelt und gebaut. Diese Struktur hat die Funktion eines Skeletts: Denn ohne die spezifische Plattform, in die das hochempfindliche Spektrometer passgenau eingebaut wird, kann Sentinel-4 in den harschen und unwirtlichen Bedingungen des Weltraums nicht funktionieren. Der um die Erde kreisende „Umweltwächter“ soll ab 2022 im ultravioletten, sichtbaren und infraroten Wellenlängenbereich Veränderungen der Luftqualität über Europa und dem nördlichen Afrika messen. Ohne die Primärstruktur wäre das Spektrometer in 36.000 Kilometern Höhe, bei extremen Temperaturschwankungen, Vakuum und unter Schwerelosigkeit nicht funktionsfähig.
Die Kernaufgabe für das siebenköpfige Entwicklerteam bei INVENT bestand vor allem darin, „diese Struktur mit dem besonderen Fokus auf ihre thermoelastische Stabilität zu entwickeln und in echter Handarbeit wie in einer Manufaktur herzustellen“, schildert Christoph Tschepe, Bereichsleiter Raumfahrt und Sentinel-4-Projektleiter bei INVENT. „Das Material muss zum Beispiel Temperaturen aushalten, die zwischen – 165 und +140 Grad Celsius liegen. Die mehr als 1000 unterschiedlichen Einzelkomponenten der Struktur dürfen dabei ihre relative Position zueinander auch in dem großen Temperaturbereich nicht verlieren.“
Seit 2013 wurden bei der INVENT GmbH insgesamt vier Modelle gemeinsam mit OHB entwickelt und in Braunschweig hergestellt. Es handelt sich um zwei Qualifikations- und zwei Flugmodelle.
In allen Modellen wurden unterschiedliche Kohlefaserverstärkte Kunststoffe (CFK) und Metallkomponenten zusammengefügt. “Der Messaufbau des Instruments bestimmt die grundsätzliche Geometrie der Struktur. Dieses Design und der für das Instrument geplante Temperaturbereich haben am Ende starken Einfluss auf die möglichen Bauweisen, Materialien und damit auch Fertigungsverfahren“, erklärt Martin Sauerbrey, Sentinel-4-Systemingenieur bei der INVENT GmbH, und ergänzt: „Wir haben die Struktur aus Materialien hergestellt, die für hohe Temperaturen geeignet sind und durch aufwendige Produktionsprozesse nur geringfügig ausgasen.“
Projektleiter Christoph Tschepe erläutert den Hintergrund: „Sentinel-4 trägt ein optisches Instrument, das heißt, die Struktur, die es hält, muss in einem großen Temperaturbereich sehr steif sein und es dürfen vor allem im All keine Stoffe mehr austreten, sonst würden die Messungen des Spektrometers dauerhaft gestört.“ Bauweise der Tragstruktur, geeignete Verbundwerkstoffe und ein individuelles Verfahren für das Aushärten und Ausbacken des Materials sowie das hochpräzise Verkleben der Einzelkomponenten galt es also zu finden.
Das „Skelett“ für das Sentinel-4-Instrument wiegt rund 50 Kilogramm und ist etwa 1 Meter mal 1 Meter mal 1,20 Meter groß. Es ist zudem das Gerüst für alle anderen Baugruppen, bietet Schutz und Stabilität vor allem beim Start, aber auch später im operationellen Betrieb im All. Jedes der vier identischen Modelle besteht aus mehreren CFK-Aluminium-Sandwichpaneelen, monolithischen CFK-Komponenten, einer sogenannten Bafflestruktur, einem Sonnenreflektor-Schild, einem Sonnenschutz-Strebenfachwerk und unzähligen Metallteilen. Die etwa einen Meter hohe Bafflestruktur, eine optische Vorrichtung zur Vermeidung von Streulicht im Messinstrument, wurde komplett verklebt und im Inneren mit einer lichtabsorbierenden Lackierung versehen.
Für INVENT-Geschäftsführer Henning Wichmann ist die Beteiligung an der Sentinel-4- Mission etwas ganz Besonderes: „Das Projekt hat uns fünf Jahre lang intensiv begleitet. Wir sind sehr froh, dass uns die OHB System AG ihr Vertrauen ausgesprochen und auf unsere langjährige Kompetenz im Leichtbau gesetzt hat. Raumfahrtprojekte bewegen sich immer an der Grenze des technisch Machbaren, das macht solche Projekte und Missionen unglaublich spannend und herausfordernd. Es gibt keine einfachen Lösungen, und gerade darin liegt der Kern unserer Motivation.“
Über INVENT
Passion for Composites
Als anerkannter Leichtbau-Spezialist für innovative Faserverbundtechnologien der Branchen Luft- und Raumfahrt, Maschinenbau, Automotive, Schienenfahrzeuge und Schiffbau entwickelt und produziert die INVENT GmbH in Braunschweig als EN 9100 sowie Nadcap zertifiziertes Unternehmen seit 1996 hochpräzise Strukturkomponenten, von der ersten Idee bis zur Serienfertigung. Die eigenen Designer und Konstrukteure arbeiten sehr eng mit den unterschiedlichsten Fertigungsspezialisten zusammen. So bieten wir unseren Kunden ein Gesamtpaket aus einer Hand mit Blick auf Design, Fertigungsplanung, Herstellungsprozesse, mechanische Bearbeitung, Fügen und Montage sowie Lackierung und Qualitätskontrolle.
www.invent-gmbh.de
Über Sentinel-4
Sentinel-4 ist das erste bildgebende UVN-Spektrometer für die Luftqualitätsmessung im geostationären Orbit: Gemessen werden können z.B. gesundheits- und klimaschädliche Gase wie Ozon, Stickoxide, Schwefeldioxid, Formaldehyde und Aerosole. Es soll stündlich neue Messdaten in hoher räumlicher Auflösung für den Atmosphären-Beobachtungs-Dienst von Copernicus liefern.
Sentinel-4 soll 2022 ins All starten. Insgesamt werden zwei Instrumente für die europäischen Wettersatelliten MTG (Meteosat-Third-Generation) gebaut. Die Satelliten kreisen in 36.000 Kilometern Höhe um die Erde und haben eine geplante Lebensdauer von jeweils acht Jahren. Die Fläche, die mit Sentinel-4 beobachtet wird, ist Zentraleuropa und reicht im Norden bis zum Nordpolarkreis, im Süden bis in die Sahara, im Westen bis zum Atlantik und im Osten bis zum Roten Meer. Sentinel-4 ist Teil von insgesamt bisher sechs Sentinel-Missionen des europäischen Copernicus-Programms. Die Airbus Defence and Space GmbH ist Hauptauftragnehmer der ESA für den Bau des Sentinel-4-Instrumentes.
Über Copernicus
Die Sentinel-Satelliten sind die Weltraumkomponente des Copernicus-Programms der Europäischen Union. Copernicus besteht aus sechs Satellitenfamilien, den sogenannten Sentinels („Wächtern“), die Informationen über die Erde und die Atmosphäre erfassen und wichtige Daten zu Klimaschutz und Umweltmonitoring, nachhaltiger Entwicklung, humanitärer Hilfe und ziviler Sicherheit liefern. Den Betrieb der insgesamt 20 Satelliten, die bis 2030 im All sein sollen, steuern die Europäische Weltraumagentur ESA und die europäische Organisation zur Nutzung meteorologischer Satelliten, EUMETSAT.